Pictor, der Gezeichnete – vom frei gewählten Anderssein

 

Charaktere tummelten sich viele vor unserer Haustür. Das enigmatischste und faszinierendste unter diesen Originalen aber war ein rumänischer Maler, der sich nur ein paar Häuser weiter als Mieter einquartiert hatte. Fast alle „Einheimischen“ wohnten in ihrem eigenen Haus. Kaum einer kannte das Wort „Miete“. Nur der Kunstmaler musste monatlich seinen Obolus entrichten, ächzend, wenn er denn überhaupt Geld hatte. Sonst musste eines seiner wenigen Gemälde herhalten … und bald seine ganze Sammlung. Keiner wusste, wo er herkam. Aus dem Norden stammte er angeblich her, aus der fernen Moldau, genauer aus der Gegend von Voroneti mit dem berühmten Kloster und dem einzigartigen Blau der Kirchenmauern, das ich später noch bestaunen sollte. Was ihn in das tausend Kilometer südwestlich gelegene Banat verschlagen hatte, gerade nach Sackelhausen, war unbekannt. Ein kleines, dürres Männlein war dieser Künstler mit schmalem Gesicht und ungepflegter Künstlermähne, eine unscheinbare Gestalt, den kaum jemand beachtete, wenn er ihn nicht kannte. Doch die wenigen, die ihn wirklich persönlich kennengelernt hatten, schätzten ihn auch, nicht nur, weil er ein Original war, sondern auch um seiner Kunst willen und der seltenen, leisen Lebensphilosophie dahinter. Kaum einer von uns Kindern hatte je seinen richtigen Namen gehört – weit und breit war er nur der Pictor. Er gehörte zum Straßenbild, noch mehr zu meiner Ecke. Wenn er nicht hinter der Staffelei stand und arbeitete, oft diszipliniert wie ein Industriearbeiter in der Fabrik oder auf der Baustelle, saß er krumm eingeknickt im Laden auf dem Pult in einer Ecke nah am Fenster. Von dort aus beobachtete er die Außenwelt und sah den Kunden zu, die kamen und gingen. Wenn Geld da war, spendierte er uns Kindern gelegentlich etwas – oder er ließ sich die auf einer Schnur aufgereihten Lose reichen und versuchte sein Glück: „Necistigator“ stand oft darin zu lesen, „Leider nicht“! Wenn ihm andere keine Enttäuschung bereiteten, dann sorgte er schon selbst für Rückschläge und Desillusion.

Dass unser Pictor, der bürgerlich Ilie Vasu hieß, ein Stigmatisierter war und wie ein Gebrandmarkter lebte, fiel nur wenigen auf, eigentlich nur denjenigen, die ihn über Jahre aus nächster Nähe erlebten, im Atelier und im späten Siechtum bis zum elenden Ende. Das Kainsmal, das ihn zum Gezeichneten machte, zum Verstoßenen aus der Dorfgesellschaft wäre zu erahnen gewesen, wenn man ihn genauer beobachtet hätte, doch schwer zu erkennen. Denn die Brandnarbe an der linken Schläfe wusste er geschickt zu verdecken, indem er stets eine große, dunkelblaue Baskenmütze tief über die linke Gesichtshälfte zog. Das musste so sein, dachten die meisten. Eine Schrulle, eine Marotte? Sein Äußeres war unverwechselbar einmalig. Es machte ihn zum besonderen Original unter anderen und rückte ihn unmerklich in die Nähe der Künstler am Montmartre, die er vielleicht verehrte. Das Mal, das er selbst im Schlaf zu kaschieren pflegte, war sein Geheimnis – und noch geheimnisvoller waren die Umstände, die ihm das Zeichen beschert hatten. Selbst ich sah die Narbe nie richtig, obwohl ich ihn manchmal, aus dem Schlaf gerissen, noch nicht zurechtgemacht erlebte. Was war dahinter? An ein tragisches Geschehen soll das Zeichen erinnert haben, vielleicht auch an eine ferne Schuld, die ihm wohl peinlich war wie das Stigma im Gesicht, denn er sträubte sich, über beides zu sprechen. Zeitlos wirkte er und war ein lebendes Rätsel, das er auch blieb, bis zu seinem Tod. Jahrelang sprang ich in seinem Atelier herum und nahm auf meine Weise an seinem tristen Dasein teil und Anteil, an einem asketischen Leben, das ein neuzeitliches Flagellantentum war mit selbst gewählter Kasteiung und Sühneleistungen für undurchschaute Schuld. Wann, wo, wie war er schuldig geworden? In was hatte er sich verstrickt? Leiblich-sinnliche Genüsse bedeuteten ihm nicht viel. Und der Schöne Schein? Das interessenlose Wohlgefallen? Auch die große Liebe, so schien es, lag längst hinter ihm. Die Angebetete war tot. Tägliche Nahrung, für andere ein Wohlgefallen, eine Lust, war ihm unwichtig. Er lebte nicht von grauem Brot allein, sondern existierte, so schien es mir, genährt und bestimmt von geistigen Dingen, hinstrebend zu einem höheren Sein. Aus der Spießersicht von nebenan aber lebte er, wie die Leute zu spotten pflegten, fast ausschließlich von Fischkonserven, von den Sardinen in Öl und von den Heringen in Tomatensoße, die ich ihm oft und gerne aus dem Laden besorgte. Wie andere Hungerleider auch qualmte er billige Filterzigaretten. Gelegentlich trank er etwas Alkohol, Weinbrand zum Vergessen, als Stimulans vielleicht und Inspiration? Kaum einer kümmerte sich um ihn, kaum einer verstand sein asketisches Sein, sein Martyrium, seine Selbstaufopferung für die Kunst und für nicht ausgesprochene Ideale. War das ein Leben, fragten sich die Leute. Sein Umfeld registrierte vieles, was er tat, nur mit Verachtung. Gerade die Braven blickten überheblich auf ihn herab. Mich scherte der Spott der Leute wenig. Schließlich waren es die gleichen Biedermänner, die mich, den schlimmen Jungen, zur Raison riefen. Im Atelier, das ein Freiraum war, und in seiner ungezwungenen Umgebung fühlten wir Kinder uns wohl, ja heimisch, noch deutlicher als zu Hause. Im Haus des Pictors waren wir frei – wie nur noch bei Hans, zwei Häuser weiter nebenan. Als der Pictor Jahre später umziehen musste, wurde er gerade dort aufgenommen – die Sphären der Freiheit fielen zusammen. Ungewöhnlich war das und eine große Ausnahme im Ort, die manchen Moralisten die Nase rümpfen ließ. Weshalb nahm unser angesehener Dorfbäcker Janny einen Gestrauchelten auf, einen namenlosen Gestrandeten, einen zum Tode Kranken? Aus einem Sinn für Anstand und Würde? Aus Nächstenliebe vielleicht? Darauf kamen die Kirchgänger nicht. Sie lästerten nur weiter und verhöhnten den Gefallenen, bis er dahinsank. Dass der Pictor ein Schaffender war, zugleich ein Gastfreund antiker Prägung mit offenem Haus und einem offenen Herz für uns Kinder, das sahen die Biedermänner nicht.

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