Freigeistiger Maler in kunstfeindlichem Umfeld

 

Oft, wenn ich im Atelier weilte, sah ich ihm beim Malen zu, neugierig und interessiert zugleich, denn auch ich wollte einmal ein Bild malen, ein Gemälde, gewaltig und faszinierend wie der Erzengel am Kirchenaltar. So erlebte ich den Schaffenden am Werk – und sah, wie mit ein paar Strichen auf weißer Leinwand ein Kunstwerk konzipiert wird, wie ein Werk entsteht, Strich für Strich, wie aus Konturen Formen entstanden. Aufmerksam verfolgte ich, wie Ölfarben auf die Palette gepresst wurden, wie er die Farben mischte. Begeistert durfte ich zusehen, wie aus drei Grundfarben nach den Gesetzen einer enigmatischen Farbenlehre viele neue Farben entstanden, die Farbenpalette des Regenborgens. Dann beobachtete ich, wie der Maler den Holzrahmen bespannte, mit fester Leinwand, wie er den Hintergrund weißte, wie er dann eine Madonna aus dem Nichts hervorzauberte, mit ein paar Strichen, und wie er die leuchtenden Farben auftrug, Schicht für Schicht, bis ein herrliches Frauenbildnis erstrahlte, nein, keine Heilige, kein Engel: Eine sinnliche Madonna kam da zum Vorschein, lächelnd wie Mona Lisa, nur natürlicher mit prallen Brüsten, mit rosafarbenen Wangen und liebreizendem Gesicht.

Ilie, der Pictor, malte hauptsächlich dann, wenn er in Stimmung war, wenn er wirkliche Schaffenslust verspürte. War die Gestimmtheit gegeben, dann gelang das Werk, dann wurde Kunst daraus. Dekorative, sinnliche Frauengestalten, teils im zarten Negligé festgehalten, venusartige Göttinnen für diskrete Auftraggeber wie „Die drei Grazien“ von Raffael, die er virtuos von einer rumänischen Briefmarke herunter kopierte, waren sein Spezialgebiet, seine Klassiker überhaupt. Wurden sie, wie er es formulierte, mit Lust in harmonischer Verfassung gemalt, überzeugten sie auf Anhieb. Wenn sie aber notgedrungen aus materiellen Zwängen entstanden, nur weil sich der verachtete Korpus meldete oder der Magen knurrte, wirkten sie bescheidener. Malen war leider oft nur ein Mittel zum schnellen Gelderwerb, viel zu selten Selbstzweck. Not, das fiel selbst Kinderaugen auf, schafft nicht immer große Kunst – und manchmal verhindert sie sie auch gänzlich. Düster melancholisch, übel gelaunt und mürrisch konnte er sein, wenn er abliefern sollte, was noch nicht geschaffen war. Dann blieb es beim Kunsthandwerk. In solchen Fällen signierte er seine Arbeiten nicht und lieferte uns wie seinen Interpreten den Hinweis darauf, vom Wert dieses Gemäldes selbst nicht überzeugt zu sein. Die innere Wahrhaftigkeit war ihm wichtig. War die Identifikation mit seiner Kreation nicht gegeben, so lehnte er das Bild ab – und das, obwohl auch er überleben musste. Genauso wie dem Dichter manchmal ein großes Gedicht gelang, öfters aber nur ein galanter Reim, so war es auch in der Malerei und in der Komposition. Höhen und Tiefen wechselten sich ab – der Mensch war nun einmal keine konstante Größe, noch weniger der sensible Künstler, der Stimmungen und Gestimmtheiten viel intensiver spürte als der Durchschnittsmensch auf der Straße in den profanen Dingen. Das Fehlen der Signatur fiel uns irgendwann auf und beschäftigte uns rege. Stand der Pictor nicht zu seinem Oeuvre? War er gar kein richtiger Kunstmaler, sondern nur ein Kirchenmaler, ein Epigone, ein Anstreicher gar oder ein Scharlatan wie manche meinten? Das Nachdenken über seine Kunst warf Fragen auf, Fragen, die oft unbeantwortet blieben. Keinen Sinn hatten wir Kinder damals für existenzielle Aspekte, für die Notwendigkeit, Gemälde und Porträts verkaufen zu müssen, um von Kunst leben zu können. Wir sahen auch nicht, dass er gegen den eigenen Willen und künstlerische Überzeugung ein Auftragsmaler sein musste, der weitgehend den schlechten Geschmack seiner Kunden zu befriedigen hatte. Von Geldnot getrieben und vom schlechten Geschmack seiner Auftraggeber auf kitschige Motive festgelegt, verzichtete er weitgehend auf eigene Wege, Neuansätze oder Interpretationen und beschränkte sich hauptsächlich auf die Darstellung des Gegenständlichen.

Stillleben malte er gern, einen Teller mit reifen Früchten aus dem Garten, mit Äpfeln und Birnen, einen Strauß Kornblumen oder den roten Klatschmohn aus unseren Fluren – farbig strahlend, klassisch konventionell, einmal mehr, einmal weniger vollendet. Einzelobjekte und Motive wurden kopiert, ohne immer anspruchsvoll umgesetzt zu werden. Später, in den Jahren seines Dahinsiechens, schrumpfte sein Repertoire zusehend. Dem guten Geschmack angepasst, reduzierte es sich auf stereotype Landschaften in Öl mit dunklen Tannen, blauen Bächen, Schneegebirge und dem ewig röhrenden Hirsch. Ferner kamen Auftragsporträts und Frauenbildnisse hinzu. Die rotbackig kitschigen, schmucküberhäuften Zigeunermadonnen von strotzender Vitalität mit breit ausgeschnittenem Dekolleté in prall leuchtenden Farben wurden weiter anfertigt, fast von der Stange, weil sie gut zu verkaufen waren. Schließlich brachten die weltlichen Madonnen etwas Farbe in das Alltagsgrau und einen Hauch Lebensfreude. Nur das Glück blieb aus im Atelier des Pictors.

Gelegentlich, wenn der Geldbeutel arg zusammengeschrumpft war, betätigte er sich auch als Kirchenmaler und Restaurator in dem orthodoxen Kirchlein der rumänischen Glaubensgemeinde wie auch in unserer mächtigen katholischen, Sankt Michael geweihten Kirche. Wenn die Ölgemälde, die den Passionsgang Christi darstellten, in unserem Gotteshaus zu sehr nachdunkelten und die Einzelheiten der Leidenstafeln kaum noch zu erkennen waren, half er mit etwas Firnis nach und ließ die Farben wieder hell leuchten. Das Leiden Christi auf Golgotha wurde wieder sichtbar; aber auch die Grazie der Engelsgestalten, die – von höherer Leidenschaft erfüllt – über den irdischen Dingen schwebten. Worin er wohl aufging? In der Schönheit angeschaut mit Augen? Oder im Leiden, das ein Teil seines Wesens war? Seine Motive entnahm der Asket nicht etwa der freien Natur, den öden Schilfgestaden am Ortsrand, die ein Lenau besungen hatte oder der üppigen Vogelwelt im nahen Hain, die uns vor der Nase herumschwirrten als Hinweis auf die Großzügigkeit der Schöpfung, sondern fast ausschließlich von Ansichtskarten, die er in einem Schuhkarton verwahrte. Beim Durchsehen dieser Vorlagen stieß ich zu meiner damals großen Verblüffung erstmals auf frivol erotische Darstellungen in künstlerischer Verfremdung, auf derbe Motive, die sich mir erst später erschlossen. An tiefer gehende Einzelgespräche mit dem Pictor kann ich mich heute nicht mehr erinnern. Doch weiß ich noch, dass er, das Opfer der Moralisten drum herum, kein Moralapostel gewesen ist, der uns mit Lebensweisheiten abgespeist hätte. Belehrend war seine Art nicht. Er war ja auch kein Schulmeister, sondern ein armer Künstler und Schlucker im selbst gewählten Leiden. Wenn er trotzdem damals schon auf mich wirkte und das weitgehend indirekt intuitiv, doch nachhaltig, dann deshalb, weil er ein Freigeist war, ein Individuum zwischen den Nationen, einer, der sein Leben lebte, seinen Existenzentwurf, auch als Stigmatisierter, als Gestrauchelter und Gescheiterter. Nichts von alledem erfasste ich damals im Alter von fünf bis elf Jahren bewusst. Auch der Pictor war Milieu – er war ebenso ein Teil des prägenden Milieus meiner Kindheit wie die Zigeunerkinder vor unserer Haustür in ihrem spezifischen Sein. Wir nahmen an, dieses auch negativ ausstrahlende Umfeld würde uns nicht tangieren, gar beeinflussen und determinieren. Diese Annahme war falsch – sie alle beeinflussten uns doch, unterschwellig und intuitiv, auch wenn wir es nicht wahrhaben wollten. Ohne dass es mir groß aufgefallen wäre, spürte ich seinerzeit die Faszination der Künstlerexistenz, die von dem Original, dem Picteur ausging. Er lebte wie ein Künstler, sorgenfrei, glaubte man, in Wirklichkeit aber ernst und trist. „Ars longa vita brevis“, stöhnte er manchmal, wenn nicht alle Blütenträume reiften, Worte die auch Kunstkenner Goethe nicht verschmäht hatte. Der bei uns in dieser Form selten anzutreffende Habitus, dieses trotzige, frei gewählte „Anderssein“, musste imponieren und prägen, weitaus mehr als seine Malerei.

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