Einsamkeit und künstlerisches Schaffen – ein Schicksal hinter der Kunst

 

Als Mensch lebte der Maler ziemlich zurückgezogen. Die Einsamkeit schien sein Element zu sein – und das Schaffen aus der Einsamkeit heraus, wie es Caspar David Friedrich oder der noch einsamere Vincent van Gogh praktizierten. Er verehrte Michelangelo und Leonardo – und lebte auch wie Michelangelo in Armut und Verzicht. Einige seiner Andeutungen, die selbst uns Kinder gedanklich beschäftigten, vermittelten den Eindruck, die exzessiv gelebte Askese sei eine Art Selbstkasteiung, ein verspätetes Flagellantentum und eine Form von Bestrafung oder gar eine Sühnehandlung für eine Schuld, die in der Vergangenheit dieses enigmatischen Menschen zu vermuten war. „Vielleicht bestrafe ich mich selbst“ rechtfertigte er sich eines Tages so nebenbei, als ihn ein kluger Zeitgenosse mit wohl gemeintem Rat auf einen neuen Pfad bringen und ihn zu einem besseren Leben bekehren wollte. Diese Haltung beeindruckte uns Kinder, weil das Phänomen der Selbstbestrafung neu für uns war. Von Sadisten hatten wir schon gehört, doch kaum etwas von Masochisten, von Leuten, die sich aus unergründbarem Anlass selbst quälen oder von Märtyrern der Kunst, die das eigene Glück für die Kunst hingeben. Sich selbst ans Kreuz zu schlagen, sich selbst zu opfern wie Lenau und andere Adepten des „L’ art pour l’art“ – Prinzips, das hatte uns noch keiner beigebracht.

Einsamkeit und Armut im Leben des Pictors waren selbst gewählt – und dies in einer Welt, die allgemein diesen Zuständen zu entfliehen trachtete. Der Pictor war andererseits auch ein geselliger Philanthrop, erfüllt von Freude an unserer frühkindlich naiven, moralisch noch weitgehend unverfälschten Sicht der Dinge. Narren, Berauschte und Kinder standen der Wahrheit bekanntlich näher als Dichter und Philosophen. Und weil wir Kinder waren, verehrte er uns Kinder. Da er außerdem ein großzügiger Mensch war, einer ganz nach meinem späteren Geschmack, der von anzuhortender Materie nicht viel hielt, ließ er die Moneten kreisen und belohnte unsere kleinen Botendienste königlich. Das oft bitter verdiente Geld zerrann in seinen Fingern wie Sand. Wir aber freuten uns über den unerhofften Segen, da wir von Haus aus nicht unbedingt reichlich mit Taschengeld versorgt wurden. Wir Kinder fanden Gefallen an dem Kauz, vielleicht weil er in seiner Seele noch ein Kind war, ein Träumer, ein Fantast, der die schnöde Erwachsenenwelt ablehnte: Nur das „Dolce far niente“ oder ein „Laissez- faire“ – das waren keinesfalls die Tugenden des Dorfes. Nichtstun, das Leben verrauchen und vergeigen – die Welt verachten, indem man darüber stand und die Spießer nicht ernst nahm? War das nicht die Brücke, zu den noch fauleren und noch mehr verachteten Zigeunern am Dorfrand? Der Pictor exerzierte uns dieses Anderssein vor, ohne eine Moral daraus zu schmieden. Er lebte einfach sein Leben. Und dieses Freisein ging ihm über alles. Für die recht konventionelle, an sich kunstfeindliche und weitgehend von kleinbürgerlichen Werten bestimmte Außenwelt war die Erscheinung des verschlossenen Malers oft nicht mehr als ein exotischer Zufall, eine Laune der Natur, die nicht besonders beachtet werden musste. Er war ein Kontrastbild, von dem man sich milde lächelnd, überlegen absetzte. Eine Provokation oder gar ein Stimulans, über die eigenen, selbst gelebten Werte nachzudenken, war er aus der Sicht der Ignoranten nie.

Kaum jemand wusste etwas anzufangen mit dieser Individualität. Nur Dorfbäcker Janny, der Vater meines langjährigen Spielkameraden Hans, mein früher Mentor und indirekter Erzieher, konnte als Freund des Malers gelten. Als Einziger nahm er sich später des Malers noch an, als dieser unrettbar einem Siechtum verfiel, als Krankheit, Elend wie schwere Not sein traurig gewordenes Leben zu beenden drohten. Nachdem der Pictor seine Mietwohnung hatte verlassen müssen, war es eben Janny, der ihn von der Straße auflas, um ihn über Jahre im eigenen Haus zu beherbergen, mit zu betreuen und mit zu versorgen, ohne Begründung, ohne Rechtfertigung nach innen oder außen – nur aus Nächstenliebe, aus Pietät, aus Mitleid und Mitleiden, kurz aus Menschlichkeit. Janny war kein Kirchgänger, aber ein Christ. Aus eigener Erfahrung wissend, was Entbehrung bedeutet, sicherte er dem über Jahre Dahinsterbenden die notwendigsten Dinge zum Überleben; selbst in der letzten Lebensphase noch, als der unaufhaltsame, physische Niedergang einsetzte und der Pictor zum Schatten verkommen vor unseren kindlichen Augen wegzusterben begann.

Janny war ein Handelnder, ein Mann der Tat, nicht der Worte. In unserer egomanischen, stets auf den eigenen Vorteil bedachten Gesellschaft war er zudem eine erstaunlich humane Ausnahmeerscheinung, ein seltenes Beispiel an Altruismus in dem oft spröden, allzu nüchternen und unmusischen Umfeld. Als Kind der bitteren Nachkriegszeit, in der er selbst viel Elend erlebt hatte, wusste er das Menschliche richtig zu werten und sozial umzusetzen. Janny, dem ich selbst viel an erzieherischen Impulsen verdanke und dessen gelebtes Vorbild für mich sehr wichtig sein sollte, war übrigens einer der seltenen Geister weit und breit, der neben der unverwechselbaren Individualität des Menschen auch dessen Kunstfertigkeit und Werke würdigen konnte. Gleiches gesellt sich zu Gleichem, sagt man. Der Pictor, so arm er auch war und so bescheiden er auch lebte, faszinierte auf seine Weise. Gleichgesinnte zog er an – sie kamen oft und gern, über Jahre. Einsamkeit und Geselligkeit wechselten. Rumänischen Intellektuellen aus der Region bot sein Atelier einen geistigen Mittelpunkt, einen Freiraum. Die Werkstatt wurde zur Begegnungsstätte, zum Ort der Zusammenkunft und des Gesprächs. In der Konversation erholte er sich von der stillen Einkehr in der Spelunca und fand zu neuen Ideen. Der geistige Disput – ein Born der Inspiration. Die unterschiedlichsten Charaktere fanden sich ein. Erfolgreiche wie Versager. Gelegentlich spielten sie Schach. Sonst redeten sie viel über Kunst, Literatur und Zeitgeschehen, wobei der kleine Junge von nebenan, mittendrin war, unauffällig wie das zottelige Hündchen Rex, ohne viel von dem zu verstehen, was da so leidenschaftlich impulsiv wie intensiv diskutiert wurde. Da ich erst einfache Sprachstrukturen der rumänischen Landessprache beherrschte und noch weit davon entfernt war, den Sinn sachspezifischer Terminologien zu erfassen, war es mir unmöglich komplexeren Themen zu folgen. Auch hörte ich viele Namen, die mir nichts sagten. Trotzdem registrierte ich die Wucht der Gespräche, das Feuer der Dialoge, das romanische Pathos, die aufrichtige Teilnahme, die Entrüstung, die exzessive Mimik und die Gestik der Redenden, die wirkten wie Schauspieler auf der Bühne. Was war echt? Was war falsch? War der Schauspieler, der in jede Rolle schlüpfen konnte, nicht zugleich der geborene Lügner? Das ernste Stirnrunzeln, noch mehr die lebendige Rhetorik ließen mich erahnen, wie wichtig das Erörterte wohl sein müsse.

Ein ewiger Student fand sich häufig ein, ein ernstes Langgesicht mit breitem, schwarzem Schnurrbart, ein angehender Jurist, der einmal Staatsanwalt werden wollte … oder auch Anwalt in einem Staat, wo es mehr anzuklagen gab, als zu verteidigen. Er schien sich einzuüben in der Kunst der Plädoyers. Ein Lehrer stieß zum offenen Kreis … Und manchmal kam auch ein gefallener Engel zu Besuch. Der Exot namens William war ein verarmter Unternehmersohn, ein Überlebenskünstler, der sich, seitdem das Vermögen dahin war, mit Fahrradreparaturen über Wasser zu halten wusste. Das Violinspiel beherrschte er auch, ja er konnte sogar virtuos aufspielen, wenn man ihm eine Fiedel reichte und einen Schnaps dazu. Dann rief er die entschwundenen Tage zurück und ihr zerstobenes Glück in Tönen – mit ihr die Nostalgie und trieftraurige Melancholie einer „Welt von gestern“.

Geister fanden sich – trotz aller Armut und Entsagung. Und uns Kindern blieb der Eindruck des mittelbar Erlebten: der intellektuelle Gesprächskreis, eine Form der zwischenmenschlichen Zusammenkunft, die sich wohltuend von den immergleichen Kartenspielrunden der Männer im Dorf unterschied; ebenso die Vorstellung von einem frei gewählten Anderssein, das sich ganz wesentlich von unserer bieder geordneten Wertewelt abhob. Der Pictor – das war ein alternativer Existenzentwurf, ein individuelles Modell, das mir schon deshalb behagte, weil ich selbst gegen gängelnde Regeln war. Für die Braven, Guten und Gerechten im Dorf aber war dieser Andere, Andersdenkende und Andershandelnde nicht mehr als ein andauerndes Ärgernis, ein Dorn im Auge, ein schmerzhafter Pfahl im Fleisch, der immer wieder aufrüttelte, die eigenen Werte infrage stellen zu müssen.

Der Kunstmaler Ilie Vasu eckte an, weil er so ganz und gar nicht dem Standard seines Umfelds entsprach und der Auffassung seiner Mitmenschen, wie man zu leben hat. Doch anstatt nach einem tieferen Verstehen des Anderen in seinem Anderssein zu suchen, begnügten sich die meisten Leute damit, hochmütig auf den halb Ausgestoßenen herabzusehen, ihn überheblich zu belächeln und sein gesamtes Sein ins Groteske zu ziehen. Den ausgekosteten Spott einzelner Spießgesellen verfolgte ich seinerzeit mit staunender Abneigung, nicht weil ich damals tiefer über Ausgrenzung nachgedacht hätte, sondern weil ich intuitiv mit dem scheinbar Schwächeren mitfühlte. Der gegen alles Geistige gerichtete Hohn der Borniertheit behagte mir auch deshalb nicht, weil stets eine tiefere Ungerechtigkeit in ihm mit schwingt. Kinder ahnen viel von dem, was sie noch nicht wissen können. Gerade jene Spießbürger, die am wenigsten von der Welt wussten und denen Kunst und Kultur kaum etwas bedeuteten, hatten mit Außenseitern ihre größten Schwierigkeiten.

Das Abweichen von der Norm, das „Verschieden-Sein-Wollen“, störte die Biederen mit ihren Gartenzwergen im Hof mehr, als sie es sich eingestehen wollten – denn die offensichtliche Gegenwelt in täglicher Konfrontation zerstörte die gottgewollte Harmonie einer scheinbar noch intakten Gesellschaft und gefährdete die Zufriedenheit des vollen Magens und des gesunden Schlafs. Nur wenige nahmen die Erscheinung dieses Nonkonformisten hin und akzeptierten den Lebensmodus des Außenseiters, dessen künstlerische Begabung und handwerkliches Können sonst gerne in Anspruch genommen wurden. Außenseiter wie der Pictor wurden fast generell als Provokation wahrgenommen, auch in der realsozialistischen Gesellschaft, als eine Art Affront, der die staatlich vorgegebene Norm infrage stellte. Gleichzeitig repräsentierten freie Individuen alternative Lebensformen, die, ähnlich der Wertegemeinschaft der Zigeuner, der etablierten Gesellschaftsstruktur krass entgegengesetzt waren. In den letzten Jahren vor dem bitteren Ende schrumpfte das sonst schon zierlich schüchterne Männlein zu einer Karikatur zusammen. Oft saß er dann in sich gekehrt kontemplativ, manchmal auch melancholisch sinnend, apathisch auf der Bettkante. Schwach hüstelte er vor sich hin. Zu sagen hatte er nichts mehr.

Der Zufall wollte es, dass ich seinen letzten Gang, genauer seine letzte Fahrt, miterleben sollte. Einsam und alleine verlief sie – fast so, wie er gelebt hatte. Nur er merkte nichts mehr davon. Der leibliche Rest des Malers, eine dürre, fast mumifizierte Leiche, lag im schwarzen Sarg des Totenwagens. Zwei schwarze Hengste mit schwarzem Federbusch geschmückt trabten durch die Kleine Kreuzgasse an unserem Haus vorbei. Verblüfft stand ich am Türchen des Bretterzauns, ohne zu ahnen, was da ablief. Es war düster, wie auf Golgotha – es regnete. Schauriger Nieselregen und noch schaurigere Fracht. Ein Graus. Nach einigen Augenblicken war der Totenwagen entschwunden – und mit ihm der Pictor, ein väterlicher Freund auf seine Weise, ein Original.

Gerade wollte ich kehrt machen und wieder ins Haus gehen, da sah ich eine Gestalt hinter dem Totenwagen herjagen durch Wind und Wetter – es war Janny, der Freund, auf dem Fahrrad durch den Regen strampelnd, entschlossen wie damals nach dem Stromschlag. Das Bild trieb die Scham in mir hoch und erinnerte mich spontan an den Tod Mozarts, den man ebenso teilnahmslos in einem Massengrab verscharrt hatte. Das Menschheitsgenie ohne Vergleich war vorausgegangen. Nun folgte ein unbekannter Künstler, nicht weniger tragisch. Keiner von den hundert Frommen der Gemeinde, die sonst dem Sarg folgten, begleitete den Aussätzigen auf seinem letzten Gang – bis auf Janny. Und auf seinem Grabeshang sollte auch keiner weinen als der Regen – melancholisch wie in Lenaus Gedicht. So war das Leben.

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