Wer unsere Schule erfolgreich absolvierte, und das waren fast alle, hatte in der Regel weder jene penetrant akzentuierte Regionalaussprache, noch die abgehackte, disharmonische Sprachmelodie, die andere kennzeichneten, die, nur ein paar Ecken weiter, auf Melkstühlen aufgewachsen waren. Wer herauskriegen wollte, woher wir stammten, brauchte schon sehr sensible Ohren und umfassende Weltgewandtheit, um die Richtung unserer Herkunft auszumachen.
Die gepflegte Hochsprache ist ein gutes Versteck und ein großes Experimentierfeld. Wer kraft seiner Intelligenz einzelne regionale Eigenheiten der Intonation zu kaschieren weiß, indem er denkt, bevor er spricht und indem er bewusst intoniert – wie beim viel geübten Rezitieren der Balladen von Goethe, Schiller und Uhland, kann hochstapeln wie Felix Krull, Bekenntnisse zum Besten geben wie sein geistiger Vater Thomas Mann und Identitäten vorgaukeln, die ihm gar nicht zustehen. Diese Erfahrungen machte ich später als Siebzehnjähriger am Schwarzen Meer, als ich im Gespräch mit jungen Leuten aus dem Westen aus Freude am Experimentieren einfach eine bundesdeutsche Herkunft vorgaukelte. „Die Jungs kommen aus Bayern“ – bestätigten es indirekt Jugendliche aus der Rheingegend. Mir erging es damals am Meeresstrand nicht viel anders als meinem langjährigen Freund Klaus, einem Schwaben aus Ulm, der, als er über Jahre inkognito in Frankreich lebte, stets für einen Franzosen gehalten wurde, selbst von seiner späteren Frau, einer Augsburger Schwäbin. Wie man ihn in der noch keltisch geprägten Normandie und Bretagne für einen Südfranzosen hielt, bei dem noch leicht provenzalischer Akzent herauszuhören war, meinte man im Midi in ihm den Elsässer auszumachen. So galt ich damals den Franken aus Nürnberg als Norddeutscher, während ich für die Hannoveraner ein Pfälzer oder Bayer war. Ein Spiel ein Spaß oder doch mehr? Meine mit Lust betriebenen Sprachexperimente verdeutlichten mir aber auch, dass die phonologischen Charakteristika der eigenen Sprache, die eigentliche Aussprache und die Sprachmelodie, die den typischen Akzent ausmacht, nur schwer zu unterdrücken sind, ohne sich selbst zu verleugnen. Natürlich wirkt der Mensch nur dann, wenn er spricht, wie ihm der Schnabel gewachsen ist. Für viele ist das eben die „Mundart“. Wer das Volk wirklich verstehen will, das wusste schon Luther, sollte ihm aufs Maul schauen! Aber er muss ihm nicht unbedingt gleich „nach dem Mund“ reden!